Die Planungen für das Projekt “Citybahn”, einer Straßenbahn zwischen Mainz, Wiesbaden und Bad Schwalbach wurden aufgrund eines negativen Votum beim Bürgerentscheid am 1.November 2020 beendet. Bei einer Wahlbeteiligung von 46% der stimmberechtigten Bürger stimmten 62% gegen das Projekt. Auf den ersten Blick sieht dies nach einer klaren Entscheidung aus. Betrachtetet man die Vorgeschichte und die Ergebnisse aber genauer, wirft der Entscheidungsprozess viele Fragen auf.
Der öffentliche Nahverkehr (ÖPNV) gehört wie Stromversorgung, Straßen oder Krankenhäuser zu unserer Daseinsvorsorge. Infrastruktur funktioniert verdanken wir zu einem großen Teil den Weitblick früherer Generationen. Ob Bahnverbindung, Kanalisation oder Wassergewinnung – die grundlegenden Bauleistungen dafür wurden im 19. Jahrhundert geleistet. Soll es zukünftig zu keinen Engpässen kommen, müssen aufgrund der Planungs- und Bauzeiten heute Entscheidungen getroffen werden. Das Stadtparlament wurde von der Bevölkerung gewählt um diese Entscheidungen zu treffen. Durch den Bürgerentscheid hat das Stadtparlament die Verantwortung an die Wähler zurückgegeben. Im Fall eines so komplexen Themas wie der Citybahn war dies aus mehreren Gründen ein zweifelhaftes Vorgehen:
Obwohl die geplante Straßenbahn Mainz, Wiesbaden und die Taunusgemeinden Taunusstein und Bad Schwalbach verbunden hätte, waren beim Bürgerentscheid nur Bürger mit Wohnsitz in Wiesbaden stimmberechtigt. Von den rund 557.000 Einwohnern in der von der Citybahn erschlossenen Region hatten somit nur ein Drittel die Möglichkeit abzustimmen. Die Einwohner der Taunusgemeinden, die von der Citybahn besonders profitiert hätten, und auch von Mainz blieben dagegen außen vor. Auch rund 25.000 Einwohner Wiesbadens, die keinen EU-Pass haben, durften nicht mitstimmen. Ebenfalls nicht gefragt wurden Jugendliche, obwohl diese mangels Führerschein besonders auf den ÖPNV angewiesen sind. Mehr Infos dazu unter https://procitybahn.de/wer-nicht-abstimmen-darf/
Ein Bürgerentscheid wird nicht mit dem Wissen aus Gutachten und Planunterlagen (zur Bürgerinformation siehe unten) sondern eher aus dem Bauchgefühl und der aktuellen Situation entschieden. Gerade im Bereich Verkehr wird dabei eher die Perspektive des eigenen Verkehrsmittelgebrauchs und der eigenen Lebenssituation eingenommen.
Hier machen sich auch die deutlichen Unterschiede zwischen der stark verdichteten Wiesbadener Innenstadt und den teilweise kleinstädtisch oder dörflich strukturierten eingemeindeten Stadtteilen bemerkbar. Die Einwohner in den „äußeren“ Stadtteilen, die in der Wiesbadener Bevölkerung die Mehrheit ausmacht, nehmen die Verkehrsprobleme der Stadt anders wahr als die Bewohner der Kernstadt. Es ist kein Zufall, dass im Stadtkern (Stadtteile Mitte, Rheingauviertel und Mitte) das Projekt Citybahn mehrheitlich befürwortet wurde.
In einer Demokratie geht es nicht allein um Mehrheitsentscheidungen. Entscheidungen müssen auch so getroffen werden, dass die im Grundgesetz garantierten Rechte eingehalten werden – z.B. §2 Abs.2 „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ – die auch für Minderheiten gelten. Durch Verkehrslärm und Luftverschmutzung ist die körperliche Unversehrtheit an vielen stark befahrenen Straßen gefährdet. Enge und zugeparkte Gehwegen schränken die Bewegungsfreiheit z.B. von auf den Rollstuhl angewiesen Menschen ein.
Wenn Wähler*innen entscheiden, übertragen sie die Konsequenzen für ihr Handeln an die Politik. Dies gilt auch für den Bürgerentscheid, da mit der Ablehnung keine konkrete Alternative verbunden war. Eine Ablehnung fällt daher leicht. Wenn sich die Verkehrssituation verschlechtert, wird die Schuld bei der Stadtregierung oder der ESWE gesucht.
Eine gute Entscheidung braucht sachliche und belegte Informationen. Diese an die Bürger zu bringen ist aber nicht leicht.
Während Planer und Befürworter im Falle einer Realisierung an ihren Behauptungen gemessen werden, brauchen Gegner eines Projektes keine Konsequenzen zu befürchten, wenn sich ihre Behauptungen als unwahr herausstellen.
Noch bevor konkrete Planungen fertiggestellt waren, begann die FDP und die Gegen- „Bürgerinitiativen“ durch Mutmaßungen und Behauptungen in der Bevölkerung Ängste gegen die Citybahn zu schüren. Ohne echte Belege verkehrten sie dabei den Nutzen der Straßenbahn ins Gegenteil. Während die Stadt auf die Ergebnisse von Planungen und Gutachten wartete, verbreiteten die Straßenbahngegner Horrorszenarien von Staus, zerstörten Alleen und dem finanziellem Ruin der Stadt.
Gleichzeitig nutzten und schürten die Bahngegner das durch Korruptionsaffären erschütterte Vertrauen der Bevölkerung in die Politiker der „großen Rathauskooperation“. Mit der Behauptung, Politiker und Gutachter würden sich durch die Citybahn persönlich bereichern, wurden Fakten und Gutachten als unglaubhaft bezeichnet (siehe Artikel in FR, zu dieser Strategie gibt es einen lesenswerten Spektrum-Artikel). Gleichzeitig wurde in den sozialen Medien immer wieder behauptet, die Aktivitäten der Initiative Bürger Pro Citybahn würden von der Stadt bezahlt. Als gemeinnütziger Verein (und damit vom Finanzamt kontrollierte) organisiert, arbeiteten die „Bürger Pro Citybahn e.V“ (mittlerweile in „Wiesbaden neu bewegen“ umbenannt) aber rein ehrenamtlich und in ihrer Freizeit. Im Wahlkampf zum Bürgerentscheid bildeten die Bürger Pro Citybahn e.V mit den Parteien SPD, Grüne und Linke sowie gesellschaftlichen Gruppen wie DGB, Fridays for future und Umwelt- und Verkehrsverbänden (u.a. auch dem VCD) ein Bündnis und erhielten von den Bündnispartnern Unterstützung.
Die Wiesbadener FDP und die BI Mitbestimmung Citybahn forderten immer wieder „Transparenz“. Selber ließen sie aber eventuelle Verbindungen beider Organisationen im Dunkeln. Zur Kommunalwahl 2021 traten mehrere Sprecher*innen der BI Mitbestimmung als FDP-Kandidaten an. Auch warb die BI Mitbestimmung in ihrem Newsletter offen für die FDP.
Auch die Medien haben nicht immer zu einer Versachlichung der Diskussion beigetragen. Die mediale Aufmerksamkeit gilt im allgemeinen eher den Gegnern als den Befürwortern von Projekten. Die BI Mitbestimmung Citybahn erhielt daher oft eine Bühne zur Selbstdarstellung. Redaktionen verfahren zudem oft nach dem Motto „Only bad news are good news“. Daher wurde über negative Ereignisse (wie z.B. die Kostensteigerung) größer berichtet als über positive Ereignisse (wie z.B. die Befürwortung des Projektes durch die IHK). Problematisch wirkte sich auch die Konzentration der Medienlandschaft aus. Diese führt dazu, dass die Vielfalt der Informationsquellen fehlt, das Zeitungen bemüht sind ihre Leser zu halten (und daher eher die Meinung ihrer Hauptlesergruppe vertreten) und das Journalisten schneller und mit weniger Recherche schreiben müssen.
Deutliche Versäumnisse bei der Information der Bevölkerung sind auch bei der Stadt und dem Verkehrsbetrieb ESWE zu suchen.
Die Stadtregierung und ESWE reagierten nicht früh und entschieden genug auf die Behauptungen der Citybahn-Gegner. Zumindest nicht so, dass es in der Öffentlichkeit ankam.
Bis kurz vor dem Bürgerentscheid fehlten offizielle Visualisierungen über die Einbindung der Citybahn-Trasse in das Straßenbild. Immer wieder in Leserbriefen geäußerte Behauptungen die Trasse werde als erhöhtes Schottergleis ausgeführt, konnten sich so halten. Mit guten Visualisierungen wären auch die Darstellung teilweise unbeholfenen Fotomontagen in der Tagespresse vermieden worden.
Mit Ausnahme der Infomessen wurde die Bevölkerung zu wenig in die Planung einbezogen. Auch die Öffnungszeiten der Infobox machten den Eindruck, dass sie eher ein Alibi sei. Am Standort vor dem Hauptbahnhof erlebten viele Berufspendler die Infobox (Öffnungszeiten dort 10-18 Uhr) nur im geschlossenen Zustand.
Die Erstellung des Mobilitätskonzeptes war eine wichtige Maßnahme – kam allerdings zu spät. Die guten Argumente wurden so nur als nachträgliche Rechtfertigung angesehen. Zudem kamen die Ergebnisse – trotz großzügigen Marketingetats - nicht in der Bevölkerung an. In extra zum Mobilitätskonzept erstellten Zeitschriften wurde das Thema Citybahn sogar ausgespart.
Der vom Stadtparlament initiierte Bürgerentscheid sollte erst stattfinden, wenn die Planungen abgeschlossen seien und alle Informationen vorliegen. Tatsächlich wurden endgültige Planungen und Konzepte den Bürgern nie vorgestellt. So fehlte z.B. eine Übersicht über das im Falle der Citybahn-Realisierung geplante Busnetz. Damit hätten Ängsten vor dem Wegfall von umsteigefreien Busverbindungen entkräftet werden können.
Durch die Beschränkungen der Corona-Pandemie war vor dem Bürgerentscheid keine echte Bürgerinformation möglich. Online-Diskussionen haben nur einen kleinen Teil – vermutlich ohnehin schon entschiedener Bürger erreicht. Das vor dem Bürgerentscheid an alle Haushalte verteilte Sachinformationsblatt konnte das Informationsdefizit nicht ausgleichen. Angesichts des vielen Textes wurde es vermutlich von vielen Bürgern gar nicht gelesen.
Die Entscheidung die Bürger mittels Ratsentscheid abstimmen zu lassen, kann als verzweifelter Versuch der Wiesbadener Rathauskooperation gesehen werden, um die Citybahn aus dem Kommunalwahlkampf 2021 herauszuhalten. Hier hatte man noch die Erfahrungen aus dem Jahr 2001 vor Augen, als die FDP mit dem Thema „Stadtbahn“ deutliche Gewinne einfahren konnte. Eine Strategie, die die Wiesbadener FDP selbst bei der letzten Europawahl verfolgt hat. Die Ereignisse in Wiesbaden zeigen vor welchem Dilemma Politik und Planung bei der Einführung eines neuen Straßenbahnsystems stehen. Eine Legislaturperiode ist in der Regel zu kurz um ein Projekt zur Ausführungsreife zu bringen. Wird eine begonnene Planung durch einen Bürgerentscheid oder einen Politikwechsel abgebrochen geht viel öffentliches Geld verloren. Wiesbaden ist bei der Lösung seiner Verkehrsprobleme heute – trotz viele Gutachten und Planungen – kaum weiter als vor 20 Jahren, als die FDP das erste Stadtbahnprojekt verhinderte.
Der VCD sieht nach wie vor einen Bedarf dafür nachfragestarke Buslinien in Wiesbaden auf die leistungsstärkere Straßenbahn umzustellen. Eine Verknüpfung mit dem Mainzer Straßenbahnnetz und der Aartalbahn wäre dafür die schlüssigste Lösung gewesen. Der Bürgerentscheid bezog sich auf das konkrete Projekt „Citybahn“ und ist auf drei Jahre beschränkt. Das Votum gegen die “Citybahn” darf daher nicht als allgemeines Denkverbot zum Thema Straßenbahn in Wiesbaden interpretiert werden.
Verkehrsclub Deutschland (VCD)
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