Lebenswerte Städte
Darmstadt & Darmstadt-Dieburg
Seit rund einem Jahr ist die Bürgerinitiative Klimaentscheid Darmstadt aktiv. Zwei der Initiator*innen trafen sich mit dem VCD via Webkonferenz zum Gespräch. Durch das Interview führte David Grünewald.
Wer seid ihr?
Heike Böhler: Ich promoviere und bin wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Darmstadt. Ich forsche und lehre mit einem Schwerpunkt in der Klimapolitik.
Björn Schulz: Ich studierte Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Parallel bin ich bei Fridays for Future aktiv.
Wie kamt ihr zum Klimaaktivismus?
Björn: Bei Fridays for Future stellte sich uns die Frage, wie wir unsere Forderungen wirkmächtig an die Politik herantragen können. Wir waren bereits mit Initiativen wie dem Radentscheid und weiteren Organisationen vernetzt. Hier hat sich als Instrument ein Bürgerbegehren angeboten. Bürgerbegehren waren zu diesem Zeitpunkt in Darmstadt ja schon einige bekannt.
Heike: Ich war bereits bei Scientists for Future aktiv. Uns gingen die Schritte der Politik zu langsam. Wir wollen Tempo machen und die Politik zur Umsetzung von Maßnahmen bringen, damit sie es nicht bei Ankündigungen belassen kann.
Warum Bürgerbegehren? Habt ihr gewisse Mittel verworfen?
Heike: Es braucht weiterhin Demos und Engagierte in den Parteien. Konkrete und verbindliche Forderungen haben uns bisher gefehlt - und dafür ist ein Bürgerbegehren eine wichtige Ergänzung.
Wie viele Leute sind Klimaentscheid aktiv?
Björn: Im Kern sind es 10 bis 15 Menschen, wobei der Altersdurchschnitt eher niedrig ist: Wir sind mehrheitlich Schüler*innen, Studierende und Menschen, die gerade in den Beruf eingestiegen sind.
Heike: Unterstützung kommt von Parents vor Future und Scientists for Future.
Wie lange habt im Vorfeld geplant?
Björn: Im Mai 2019 haben wir die ersten Treffen abgehalten. Von da an haben wir uns vernetzt, Wissen gesammelt und Mitglieder geworben. Auch Expert*innen wie vom Institut für Energie- und Umweltforschung (ifeu) in Heidelberg und der Hochschule Darmstadt (h_da).
Unterschriften haben wir ab dem 27. August 2019 gesammelt und hatten am 1. Dezember 5.500 Unterschriften zusammen. Die haben wir anschließend offiziell übergeben.
Habt ihr seitdem etwas von der Stadt gehört?
Heike: Die Stadtspitze hat die Forderungen zwar grundsätzlich begrüßt, aber auf eine umfangreiche Prüfung verwiesen. Offensichtlich hat unser Begehren aber schon einige interne Prozesse angestoßen.
Welche?
Heike: Offizielle Statements gibt es nicht, aber es sickern Informationen durch. Viele Stellen innerhalb der Stadtverwaltung überdenken ihr bisheriges Programm, nicht zuletzt, weil parallel ein Beschluss der Stadtverordnetenversammlung zur höchsten Priorität für den Klimaschutz vorliegt und Gruppen wie Klimanotstand und große Demonstrationen Bewegung in die Sache bringen.
Björn: Am 20. September waren über 10.000 Menschen für das Klima auf der Straße. Das war die größte Demonstration, die es je in Darmstadt gab. Im Moment überschattet zwar die Gesundheitskrise wegen Corona alles andere, aber das rechtfertigt nicht das quasi vollständige Schweigen der Stadtspitze. Sie ist jetzt am Zug.
Heike: Wir haben breit gefächerte Forderungen bei Verkehr, Wohnen, Bauen etc. Wir würden uns über eine transparentere Kommunikation freuen. Außerdem ist 2030 nicht weit weg und bis dahin muss die Klimaneutralität erreicht sein. Ein wenig wird im Klimabeirat der Stadt gesprochen, in dem wir jetzt auch Mitglied sind. Das Gremium hat aber bislang noch wenig Ergebnisse produziert.
Ihr habt euch 11 Ziele gesteckt. Was beinhalten diese?
Heike: Unser Ziel 1 greift das Pariser Klimaschutzabkommen auf. Darin sind 1,5 °C globale Erwärmung als Maximum definiert. Jedes Zehntel Grad mehr sorgt für schwerwiegende Folgen für Menschen und Umwelt. Heruntergebrochen auf Darmstadt bedeutet das, dass wir bis spätestens 2030 klimaneutral sein müssen. Hier müssen die einzelnen Sektoren ihren Treibhausgasausstoß drastisch senken.
Welche Rolle spielt der Verkehr für das Klima?
Björn: Von 1990 bis heute hat der Verkehrssektor am wenigsten CO2 eingespart. Hier sind die greifbarsten Erfolge zu erwarten. Beim Bürgerticket setzen wir beispielsweise auch auf einen psychologischen Effekt: Neubürger*innen sollen ein kostenloses ÖPNV-Ticket erhalten und ihre neue Sicht sprichwörtlich erfahren. Langfristig setzen wir so auf eine Verhaltensänderung hin zu mehr ÖPNV, Rad- und Fußverkehr.
Heike: Im Verkehrsbereich hat die Stadt mit Blick auf Land und Bund die größten Spielräume. Härtere Maßnahmen wie eine flächendeckende Parkraumbewirtschaftung müssen dabei mit neuen Alternativen und Angeboten verknüpft werden, damit wir alle Bürger*innen mitnehmen. Aus unserer Sicht führt nur eine Kombination von attraktiven Angeboten und restriktiven Regelungen zum Erfolg.
Wie sieht es bei Bauen und Wohnen aus?
Heike: Bauen und Wohnen benötigt heute große Mengen fossiler Energie. Bei sinkenden Energiekosten wird auch weniger CO2 verbraucht und werden Mieter*innen entlastet. Wir fordern die Stadt und ihren Bauverein auf, größer zu denken und Pläne vorzulegen.
Björn: Im Vergleich zu Freiburg oder Tübingen hat Darmstadt wenig Innovatives vorzuweisen. In den genannten Städten gibt es verpflichtende Photovoltaik-Anlagen (PV) und es sind klimaneutrale Baustoffe wie Holz und Lehm vorgeschrieben.
Heike: Gerade beim Neubau müssen höchstmögliche Standards gesetzt werden. Im hessenweiten Vergleich der 10 größten Städte nimmt Darmstadt Platz 10, also das Schlusslicht ein, wenn es darum geht, wie viel nutzbare Flächen mit PV-Anlagen belegt sind. Photovoltaik rechnet sich für den Klimaschutz und wirtschaftlich für Bauherr*innen.
Welchen Beitrag leistet eure Forderung nach mehr Stadtbegrünung?
Heike: Pflanzen binden CO2. Klimaschutz und Lebensqualität gehen hier Hand in Hand. Menschen fühlen sich wohler – auch bei durch den Klimawandel heißeren Sommern sorgt Stadtgrün für mehr Abkühlung.
Warum muss auch die Wärmeversorgung erneuerbar werden?
Heike: Heute dominieren Gas und Ölheizungen unsere Gebäudeheizungen. Wir wollen mehr erneuerbare Energien im Fernwärmenetz. Viel Sonnenenergie und industrielle Abwärme bleibt heute ungenutzt. Trotz Klimaerwärmung muss im Winter noch geheizt werden.
Wo muss die Stadt ihre Vorbildfunktion ausspielen?
Björn: Die Stadt muss beispielsweise im Divestment Vorbild sein. Divestment bedeutet, dass die Stadt klimaschädliche Geldanlagen abzieht.
Heike: Die Stadt muss auch heute schon handeln und z. B. auf allen städtischen Gebäuden, wo das technisch sinnvoll ist, eine PV-Anlage installieren. Heute hat die Stadt etwa 845 Gebäude in ihrem Immobilienmanagement. Davon verfügen nur 35 über eine PV-Anlage. Die meisten Schulen haben keine PV Anlage, aber große Flachdächer. Schüler*innen könnten durch den Ausbau der Solarenergie an ihrer eigenen Schule vor Ort lernen, welche positiven Effekte die Technik mit sich bringt.
Unsere Analyse mithilfe des hessischen Solarkatasters liefert allein auf den Schuldächern, Schulturnhallen und Schwimmbädern ein hebbares Potenzial von circa 2.067.000 kWh Sonnenenergie pro Jahr. Darmstadt könnte hier allein auf eigenem Eigentum die bisherige Solarproduktion der gesamten Stadt um 27% steigern.
Euer letztes Ziel bezieht sich auf den Strommix: Welchen Strommix hat die ENTEGA heute?
Heike: Private Neukunden bekommen Ökostrom. Es gibt aber noch Altverträge. Soweit wir es überblicken, nutzt die Stadtverwaltung selbst bereits 100 % erneuerbare Energien.
Björn: Im Gesamtmix der ENTEGA sind noch rund 10 % fossil, aus denen sie aussteigen muss.
Wie geht mit dem Bürgerbegehren weiter?
Heike: Noch ist alles offen. Wir warten auf die Rückmeldung der Stadt. Wir rechnen aber damit, dass die Stadt mit Verhandlungen auf uns zukommt.
Plant ihr wieder Aktionen?
Björn: Eigentlich wollten wir auch im Rahmen der nächsten Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung weiter demonstrieren. Wegen Corona ruht das vor Ort und wir prüfen Alternativen wie Online-Aktionen.
Heike: Die inhaltliche Vorbereitung geht weiter, aber die Gesundheit aller geht vor.
Inhaber: VCD Darmstadt-Dieburg e.V.
IBAN: DE93508900000054723601
Verwendungszweck: „Spende Klimaentscheid“