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Wetterau & Vogelsberg
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49 Euro für 49 Prozent Erreichbarkeit - Presseartikel zum ÖPNV im Vogelsberg

Das Deutschland-Ticket hat es attraktiver gemacht, Bus und Bahn zu nutzen. Profitiert haben jedoch vor allem die ÖPNV-Kundinnen und Kunden in Großstädten und den Ballungsräumen, wo es relativ viele Verbindungen und gut erreichbare Haltestellen gibt. In ländlichen Gebieten, wie dem Vogelsberg, lässt das deutlich dünnere Angebot an Bus- und Bahnverbindungen nicht zu, dass das 49-Euro-Ticket zu einem „Wumms“ für die Verkehrswende wird.

Mehr als 300000 dieser Tickets seien im Gebiet des Rhein-Main-Verkehrsverbunds gleich zum Start verkauft worden. Es habe dafür gesorgt, „dass regelrecht über Nacht die Fahrgastnachfrage um 10 % gestiegen ist", so RMV-Geschäftsführer Professor Knut Ringat. Welcher Anteil dieser Nachfragesteigerung auf den Vogelsbergkreis entfällt, dazu gibt es keine Daten, berichtet Sven Rischen, Pressesprecher der Verkehrsgesellschaft Oberhessen (VGO).

Statistische Daten haben auch sie nicht, aber aus ihren Alltagserfahrungen berichten die Vertreter der Fahrgastverbände, dass der Zuspruch zum 49-Euro-Ticket im Vogelsbergkreis „nicht so gewaltig ist wie im Ballungsraum“, wie es Werner Filzinger formuliert. Der Sprecher des Regionalverbands Osthessen von Pro Bahn sieht den Vogelsberg im Rahmen des RMV grundsätzlich gegenüber dem Ballungsraum benachteiligt und beklagt Probleme bei der Zusammenarbeit mit der VGO, wenn es um Verbesserungsvorschläge geht.

Das Deutschlandticket bewertet er positiv, weil es erstmals ermöglicht, alle öffentlichen Nahverkehrsmittel in ganz Deutschland mit nur einer Fahrkarte zu nutzen. Damit es auch in ländlichen Regionen stärker genutzt wird, müsse ein besseres Bus- und Bahnangebot vorhanden sein. Insbesondere das Angebot auf der Vogelsbergbahn müsse ausgebaut werden, um die Kapazität zu erhöhen und zusätzlich schnellere Zugverbindungen (Regionalexpress) zu ermöglichen. Dazu sei die Bahnlinie mindestens an einigen geeigneten Stellen mit einem zweiten Gleis zu versehen und die schon lange geforderte Elektrifizierung endlich zu realisieren.

Welche Mängel im Vogelsbergkreis ganz oben auf der Verbesserungsliste stehen, erläutert Stefan Sitzmann vom Fahrgastverband Pro Bus und Bahn: „Das Hauptproblem ist die Verspätungsanfälligkeit. Der Bahnbetrieb leidet unter Zugausfällen, technischen Störungen – und nicht – zuletzt Personalmangel,“ lautet seine kompakte Problembeschreibung, die er selbst ganz praktisch mit der Vogelsbergbahn „erfahren“ hat. Dass die Toilette in der Regionalbahn nicht benutzbar ist oder auch eine Einstiegstür defekt ist, passiere viel zu häufig. Durch die Störungen im Betrieb und die folgenden Verspätungen würden auch wichtige Verbesserungen im ÖPNV entwertet. „Die beiden Schnellbuslinien X-35 (Alsfeld – Marburg) und X-39 (Alsfeld – Treysa) bieten wichtige neue Verbindungen. Kommt die Regionalbahn verspätet in Alsfeld an, kann der Anschlussbus nicht erreicht werden und man muss eine Stunde auf den nächsten Bus warten,“ beschreibt er eine Auswirkung der mangelnden Zuverlässigkeit. Im Einzugsbereich der Vogelsbergbahn seien die Verbindungen einigermaßen attraktiv, anders hingegen in der Fläche. „Passiert eine Verspätung oder gar der Ausfall des Busses zum Beispiel in Herbstein, „dann stehen Sie da.“

Wie es um die Grundausstattung der mehr als 800 Orte im Vogelsbergkreis mit Haltestellen für den ÖPNV bestellt ist, hatte vor kurzem eine wissenschaftliche Studie des Bundesinstituts für Bau, Stadt- und Raumforschung (BBSR) in Bonn untersucht. Als „komfortablen Zugang zum öffentlichen Verkehr“ bewerten die Experten darin eine Bushaltestelle, die „fußläufig“ in acht bis zehn Minuten zu erreichen ist und mindestens 20 Fahrtmöglichkeiten an einem Werktag bietet. Die Zeit für den Fußweg wird als gegeben angesehen, wenn die Entfernung zur Haltestelle 600 Metern entspricht. Für einen Bahnhof gilt ein längerer Fußweg von 16 bis 20 Minuten als zumutbar. Diese Bedingungen werden für die ÖPNV-Haltestellen in Deutschland insgesamt zu 90 Prozent eingehalten. In Hessen gibt die Untersuchung des BBSR dazu vom Sommer dieses Jahres sogar 94 Prozent an, wobei der statistische Durchschnittswert durch die gute Bus- und Bahnerreichbarkeit in den Großstädten geprägt ist. In ländlichen Regionen fällt sie deutlich schlechter aus. So liegen die Quoten in einigen bayerischen und niedersächsischen Landkreisen unter 40 Prozent.

Im Vogelsbergkreis haben 62 Prozent der Einwohner:innen die Möglichkeit, eine Haltestelle mit 20 Fahrtmöglichkeiten am Tag zu nutzen. Ein Angebot von 28 Fahrten (die beste Kategorie der Studie) steht hier nur 49 Prozent der Bevölkerung zur Verfügung.

„Unser ÖPNV-Mindestangebot für Montag-Freitag (auch in den Ferien) umfasst laut Nahverkehrsplan 20 Fahrten (das sind zehn Fahrten pro Richtung) für jeden Ort und ist im Vogelsbergkreis unter Berücksichtigung der ALT-Fahrten weitgehend realisiert,“ kommentiert Stefan Klöppel, der die Verkehrsabteilung des Zweckverbands Oberhessische Versorgungsbetriebe (ZOV) leitet, diese Zahlen. „Ohne Kenntnis der genauen Erhebungsmethodik hegen wir den Verdacht, dass bei der Zählung pro Landkreis unser Bedarfsverkehrsangebot (Anruflinientaxi) nicht berücksichtigt wurde,“ so Klöppel. Gerade das ALT sehen die Fahrgastverbände jedoch kritisch. „Besser als nichts,“ lautet der knappe Kommentar von Filzinger. Sitzmann und Christoph Winterberg vom Kreisverband des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) wünschen sich häufigere Fahrten und eine Verkürzung der Bestellfrist. Das Anruflinientaxi ersetzt Busfahrten und fährt deshalb die für den Linienbetrieb vorgesehene Strecke. Jede Fahrt muss bei dem zuständigen Taxiunternehmen eine Stunde vor Abfahrttermin angemeldet werden. „Das ist für ein attraktives ÖPNV-Angebot zu lang. Positiv ist daran, dass nicht unnötig mit großen Linienbussen gefahren wird, sondern angepasst an die Fahrgastzahl kleine Busse resp. Taxis fahren,“ so Winterberg.

Er sieht solchen „Fahrten auf Bestellung“ (On-Demand) für den zukünftigen ÖPNV im ländlichen Raum eine größere Bedeutung zukommen. „Verschiedene Ausleihsysteme, beispielsweise beim Fahrradverleih, E-Scoutern oder auch beim Carsharing, nutzen schon einige Zeit das Smartphone für den Betrieb. Das kann auch für den ÖPNV bzw. die Kombination solcher Mobilitätsangebote mit diesem genutzt werden,“ meint der VCD-Sprecher und verweist zudem auf Modelle zum Auf- und Ausbau von sogenannten Mobilitäts-Hubs an ÖPNV-Haltestellen im ländlichen Raum zur Vernetzung des Busbetriebs mit anderen Verkehrsmitteln und Dienstleistungsangeboten. 

Wie es um die Entwicklung solcher Verbundlösungen im Vogelsberg steht, erläutert Klöppel: „Es gab schon in der jüngeren Vergangenheit Investitionen für die verbesserte Abstellmöglichkeiten von Fahrrädern an Bahnhöfen; das Bahnhofsumfeld in Zell-Romrod wurde bereits attraktiviert, am Lauterbacher Nordbahnhof war dieser Tage Spatenstich für die Neugestaltung des Vorplatzes mit mehreren multimodalen Elementen, am Bahnhof Burg- und Nieder Gemünden steht die Neugestaltung bevor. Verleih- und Sharingsysteme im größeren Stile benötigen absehbar Zuschüsse der öffentlichen Hand, damit sie angeboten werden.“

Damit ist der Dreh- und Angelpunkt der zukünftigen Gestaltung des öffentlichen Nahverkehrs angesprochen. Zur Landtagswahl war die prägnante Formel „Ein Bus jede Stunde in jedes Dorf!“ von den Grünen in die Diskussion gebracht worden. Ob die noch zu bildende neue Landesregierung die nötige Finanzierung bereitstellen wird, bleibt abzuwarten. Im Zusammenhang mit dem Start des Deutschlandtickets hatte der bisherige Hessische Verkehrsminister Tarik Al-Wazir diese Summe genannt: „Für 2023 und 2024 sind insgesamt 2,77 Mrd. Euro vorgesehen, beim Anteil der Zuschüsse aus dem Landeshaushalt pro Kopf liegt Hessen inzwischen auf Platz 1 der Flächenländer.“ Gemeinsam haben die Verkehrsminister der Bundesländer bei ihrem Treffen letzte Woche die große Bedeutung des Deutschlandtickets betont: „Das Deutschlandticket ist ein gemeinsames Erfolgsprojekt und muss auch gemeinsam fortgeführt und nachhaltig finanziert werden. Wir erwarten vom Bund, dass er seinerseits die Verantwortung für die Finanzierung der anderen Hälfte übernimmt,“ betonte Guido Beermann, Minister für

Infrastruktur und Landesplanung des Landes Brandenburg. Die Reaktion des Bundes steht noch aus.

Gerhard Kaminski

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